Haltlos und ohne ein praktisch wirksames Gefühl der persönlichen Verantwortung für das eigene Tun oder (wieder mal): Die unerzogene Gesellschaft

Gestern Abend habe ich im „Ersten“ eine Dokumentation mit dem  „Volksarzt“ Eckart von Hirschhausen gesehen. Es ging um die zunehmenden Fälle von Übergewicht  in der deutschen Gesellschaft. Inzwischen sterben hier entschieden mehr an „Überernährung“ als an Unterernährung. 

Paradox: Die verzweifelt nach Essen suchen und nicht genug finden bzw. kriegen wie jetzt zum Beispiel Kinder im Gazastreifen, müssen sterben. Sie haben keine Alternative. Die, die in Deutschland schon als Kinder über 100 kg wiegen und immer noch mehr zunehmen? Haben sie bzw. ihre Eltern auch keine Alternative? Einige, die diese Dynamik nicht stoppen können, sterben später jedenfalls ebenfalls, allerdings am Überfluss und im Überfluss.

Wenn es nach Hirschhausen, so wie ich ihn verstanden habe, geht, können sie nichts dafür und nichts machen; sie sind der Entwicklung ihres zunehmenden Übergewichts ausgeliefert. Schuld ist die Gesellschaft, schuld sind die anderen. Das ist ein Teufelskreislauf, er wird zum Untergang der individualistischen, „freien“ West-Gesellschaft führen, in der immer der Einzelne etwas geleistet hat, wenn es gelingt, und die anderen – vor allem „der Staat“ und seine Beauftragten, insbesondere die „dummen“ Lehrer und Polizisten – Schuld haben, wenn es schief geht oder scheitert.

Deswegen wollen ja heute in Deutschland auch so viele Lehrer und Polizisten werden, weil sie sich aufgehoben und anerkannt fühlen in der Gesellschaft. Manchen macht vielleicht auch immer noch das autoritäre Spiel Spaß: „Auf! – Setzen!“ und wie sie flugs gehorchen die Schüler, eine Freude. In Wirklichkeit wird es heute eher so sein in Deutschland, dass die größten Banausen ins Lehrerzimmer stürmen und dieses Spiel mit den Lehrern spielen. Diese werden dankbar sein für die körperliche Ertüchtigung und wenn sie dann endlich wieder sitzen bleiben dürfen. Wir sind schließlich keine Autokratie, sondern eine Büro…, eh Demokratie! (Mein Schulfreund und ich haben damals schon in der 6. oder 7. Klasse in den 60-ziger Jahren zu Beginn der Stunde „Wir sind die junge Garde des Sekretariats“, anstatt „Proletariats“ gesungen. Ist keinem aufgefallen.)

Und bei der Polizei ist es dann ähnlich erfrischend umgedreht: Nicht sie nimmt die Personalien von Ruhestörern, Schwarzfahrern, Taschendieben und anderen Regel- und Gesetzesbrechern auf, sondern diese nehmen die Personalien der Polizisten auf, die es gewagt haben, sie – autoritär – zu behelligen.

Als Rettung winkt im Falle des Übergewichts die „Abnehmspritze“ für die, die es einfach nicht schaffen, die nach jeder Diät noch ein bisschen dicker geworden sind. Hirschhausen scheint das im Ernst so zu glauben und zu denken.

Nach dieser Logik wird es nicht lange dauern und Schüler mit chronischen und zunehmenden Lernproblemen, die dann zu einem großen Teil den Schulbesuch unter- oder sogar abbrechen, werden dräuend – und das im anschwellenden Chor -, zusammen mit ihren Eltern, eine „Lernspritze“ einfordern. Vielleicht lieber Lerntropfen, denn die Spritze könnte weh tun.

Komischerweise hat Hirschhausen selbst es geschafft, von seinem „für die Wissenschaft“ angefressenen Übergewicht wieder herunterzukommen. Wieso schafft er es? Weil er was Besseres, geistig-kulturell Höheres ist, kein „edler Wilder“, der auch noch als Erwachsener der hilfreichen Begleitung, einschließlich Abnehmspritze, bedarf? Mit einem bewussten, erwachsenen Denken und damit verbundener Disziplin ist es ihm gelungen, sein Normalgewicht wieder zu erreichen, allerdings brauchte er dafür ein Vielfaches der Zeit, die zum „Anfressen“ nötig war. Dafür reichten fünf Tage.

Es ist also wie so oft: Aufbauen ist viel schwerer und langwieriger – auch wenn es ein Abbauen ist – als das Zerstören. Dresden, Hamburg, Hiroshima und Nagasaki waren in wenigen Stunden in Schutt und Asche gelegt; sie wieder aufzubauen, brauchte Jahrzehnte, und dieser Prozess ist immer noch nicht beendet. Alles was gut und gesund ist, braucht also viel Geduld und Nachhaltigkeit, Disziplin nicht nur für einen Moment, sondern auf Dauer. Die „besseren“ Menschen vom Schlag eines Hirschhausen können diese Ausdauer aufbringen, die „wilden Naturmenschen“ nicht. Sie sind noch auf einem niederen Stand der Kulturentwicklung verblieben, sind immer noch wie die Kinder weitgehend triebgesteuert.

Ist nun die Lösung, ihnen Hilfsmittel, Abnehmspritzen, „Glasperlen“ sozusagen, zu geben? Oder müssten sie nicht unterstützt werden bei einem Prozess ihrer eigenen Nacherziehung hin zu Konsequenz und Ausdauer? Da sollen sie auch Hilfsmittel bekommen, zum Beispiel Waagen, die mir sehr helfen. Ich muss meinen Erfolg sehen können, das motiviert mich gewaltig. Und auch so ein permanenter Blutzuckermesser, der ständig über das Smartphone abgefragt werden kann, ist sicher sehr hilfreich. (Ich habe ihn leider trotz Diabetes noch nicht, er wird erst verschrieben, wenn er insulinpflichtig ist.) Er erzeugt auch ein Bewusstsein. Die Kraft und Macht des Wissens: Was speziell treibt meinen Blutzucker wirklich in die Höhe? Ist es tatsächlich die Schokolade oder sind es mehr die Nudeln? Ich weiß es leider noch nicht.

Hätte ich dieses Teil am Arm, hätte ich das Gefühl, mein Leben besser kontrollieren zu können, Herr meines Tuns zu sein und ihm nicht unmächtig ausgeliefert.

Das ist, wie wenn jemand 7 Punkte in Flensburg hat. Nur noch einen Punkt, dann ist er den Führerschein los. Er ist selbst verantwortlich dafür, das zu verhindern. Da hilft ihm keine Punktereduzierungsspritze, aber es hilft ihm ein Tachometer, das genau funktioniert, dessen Wert über Kopf vielleicht sogar an die Windschutzscheibe projiziert wird. Wer Probleme mit einem Zuviel hat – egal ob Gewicht, Punkte in Flensburg oder Aggressionsneigungen – muss lernen, sich selbst besser zu kontrollieren. Er muss öfter aufs Tachometer sehen, öfter auf die Waage steigen, öfter Rückmeldungen wichtiger Mitmenschen (Eltern, Lehrer, Trainer, Gefährten aller Art) darüber erhalten und erhalten wollen, ob er schon wieder zu viel Wut gezeigt hat.

Sie kann ja bleiben, genauso wie der Appetit und andere Gelüste, aber wir müssen lernen, mit ihr umzugehen, sie zu beherrschen, nicht einfach herauszulassen, wann sie es will. Nein, sie, alle Triebe, müssen warten, bis der „Chef“, die Persönlichkeit, die zu dem Menschen gehört, in dem sie toben, „ja“ gesagt hat. Das kann man trainieren, wenn man nur will bzw. wollen muss, zum Beispiel weil der Führerschein weg ist und Kurse zur Wiederherstellung der Fahreignung die Voraussetzung sind, ihn wieder zu erhalten. Auch immer wieder Mensch-ärgere-dich-nicht“ mit einem Kind zu spielen, das zu Wutanfällen neigt, kann hilfreich sein.

Bekommt es ihn dann, den Anfall, wird es fest in den Arm genommen und gehalten, bis der Anfall vorbei ist. Es darf seine Wut dann in Worten kundtun und die werden ernst genommen, ihm gespiegelt, damit es das Gefühl hat, verstanden zu werden. Aber nicht mogeln, auf keinen Fall mogeln, um dem Kind angeblich zuliebe den Rauswurf einer Figur zu vermeiden. Nein! Es hat ein Recht auf Erziehung, auf Erzogen-Werden, auf die Einübung des richtigen Verhaltens: Es muss üben, mit Hilfe seiner (Groß)Eltern wieder und wieder üben, mit den Niederlagen fertig zu werden, ohne zu toben und ohne zu wüten. Dieser Weg ist lang und mühsam, kein anderer führt zum Erfolg, aber er lohnt sich.

Nicht die armen Menschen werden allein gelassen vom „dummen“ Staat, indem ihnen die Abnehmspritze vorenthalten wird, sondern die allgemeine Unerzogenheit ist ein generelles Problem dieser Gesellschaft, sie führt zu ihrem Niedergang in immer mehr Hinsichten, nicht zuletzt zu immer mehr ungezügelter Gewalt. Die Gewalttäter können nichts dafür, ihnen wurde die Antiwutspritze vorenthalten. Wie viele Opfer unkontrollierter Gewalt könnten noch leben, wenn der deutsche Staat nicht dermaßen unfähig wäre! In dieser Hinsicht ist er es wirklich. Besser gesagt: Wenn die deutschen Bürger nicht immer wieder die Parteien wählen würden, die dafür verantwortlich sind. So gesehen, sind die Deutschen doch erzogen. Leider macht diese Art Erziehung, diese Art Triebkultivierung durch eine angeblich „demokratische Bildung“ alles nur noch schlimmer.

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